Schleim, aber oho!

Die Schleimpilze haben es mal wieder in die Nachrichten geschafft: Göttinger Wissenschaftler haben einen Mechanismus gefunden, mit dem der Schleimpilz Physarum polycephalum sich für etwa 30 Minuten daran „erinnert“, wo es lecker Essen gibt.

frankenstoen, CC BY 2.5, via Wikimedia Commons

Röhren statt graue Zellen

Die Meldung kommt gerade zur rechten Zeit, weil Schleimpilze „Einzeller des Jahres 2021“ sind – eine längst überfällige Würdigung, nachdem Pantoffel- und Trompetentierchen diese Ehre bereits vor Jahren zuteil wurde!

Schleimpilze sind als Röhrennetzwerk strukturiert. Wo sie auf Nahrung treffen, wird ein Botenstoff durch die gelartigen Röhren geleitet. Dieser noch nicht näher bekannte Botenstoff weicht die Röhren auf, so dass sie sich weiten. Diese Weitung bleibt mindestens 30 Minuten bestehen. Der Schleimpilz nutzt dies zur Orientierung.

Bereits 2008 zeigten japanische Wissenschaftler, dass Schleimpilze eine Art Gedächtnis haben müssen. Sie setzen sie für 30, 60 oder 90 Minuten Hitze oder Kälte aus, wonach die Schleimpilze auch weiterhin so (re)agierten, als müsse sich nach 30, 60 oder 90 Minuten die Temperatur ändern, auch wenn dies nicht geschah. An die letzte Temperaturänderung erinnerten sie sich also mindestens 90 Minuten lang.

Meister der Effizienz

Die letzten zwei Milliarden Jahre Evolution hat der Schleimpilz nicht nutzlos verstreichen lassen, sondern ist zu einem kleinen, manchmal auch großen Naturwunder heran mutiert:

  • Sie finden den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten in Labyrinthen.
  • Sie finden die kürzesten Flugstrecken für Flugzeuge: In den USA half einer von ihnen, den Flugverkehr zu optimieren.
  • Sie bilden hocheffiziente Netzwerke: Ein Schleimpilz bildete in wenigen Stunden ein Transportwegesystem, das dem des Bahnnetzes in der Region Tokio mit 37 Städten größtenteils glich, in Teilen aber sogar effizienter war.
  • Schleimpilze sind naturbegabte Astrophysiker: Sie können treffsicher primordiale Gas-Filamente modellieren.
  • Sie reizen eine Zelle maximal aus: Als größter Einzeller der Welt gilt ein 5,54 Quadratmeter großes Exemplar.
  • Sie sind Hungerkünstler: Wenn sie hungern, optimieren sie ihr Verteilungsnetzwerk.
  • Sie sind Multitasker: Wenn sie Nährstoffe durch ihr Röhrennetzwerk verteilen, nutzen sie dies zugleich zur Signalweiterleitung.
  • Auch beim Sex geben sie sich keine Blöße: Per Karyogamie vereinen sich die Vorkerne zweier Geschlechter zu einem einheitlichen diploiden Zygotenkern. 720 Schleimpilz-Geschlechter sind bekannt. Es gibt aber auch apomiktische Schleimpilze, die sich asexuell kopieren. – Schleimpilze zeigen also selbst noch der LGBTIQA+-Community, was Diversität ist!
  • Vereint teilen sie ihr Wissen mit Artgenossen. Dafür brauchen sie drei Stunden Zeit. Dann haben sich Verbindungskanäle gebildet, die das Wissen effektiv weitergeben. Erlerntes wird sofort versiert angewendet.
  • Sie bewegen sich, ohne Beine zu haben, mit bis zu 4 cm/h.
  • Sogar im Tod beweisen sie noch Haltung wie tragische Dichter ohne Worte: Wenn zu wenig Nahrung da ist, schließen sich mehrere Schleimpilze zu einem Turm zusammen, an dessen Spitze sich Trockenheits- und Hunger-resistente Sporen bilden. Diese werden von Wind oder Insekten fortgetragen, um anderswo zu neuen Schleimpilzen heranzuwachsen. Der Zellturm stirbt.

Man muss kein Prophet sein, um zu wissen: Von diesen schleimigen Gesellen werden wir noch so manches Mal verblüfft werden!